In meinem Elternhaus hängen alte Familienfotos, die teilweise bald 100 Jahre alt sind. Darauf zu sehen ist eine Grossfamilie: die Grosseltern und Urgrosseltern, ein Dutzend Kinder, die Geschwister der Grosseltern, weitere Verwandte. Viele von Ihnen werden wohl auch solche Schwarz-Weiss-Fotos zu Hause aufbewahren. Was aus heutiger Sicht erstaunt: Alle auf den Fotos abgebildete Personen lebten in einem Haushalt. Jede und jeder hatte Aufgaben in und um das Haus zu erledigen, die Jüngeren halfen den Älteren, die Älteren schauten zu den Jüngeren.
Die Fotos sind langsam verblasst. Das Familienbild, das sie zeigen, kann heute nicht mehr so gelebt werden. Heute sind die Ansprüche im Beruf gestiegen, wir wurden mobiler und verbringen nicht mehr das ganze Leben im Geburtsort. Dabei hat sich auch das Bild der Familie gewandelt: von der Grossfamilie hin zu „Normalfamilien“ (Eltern mit vielleicht noch zwei Kindern), zu Ein-Eltern-Familien, zu Konkubinatspaaren mit Kindern bis zu so genannten Patchwork-Familien.
Auch sind die Rollen in diesen Familienformen nicht mehr klar verteilt. So kann durchaus die Frau die „Haupternährerin“ der Familie sein. Es ist auch richtig, dass sie nach einer teuren Ausbildung an der Fachhochschule oder Universität nicht zu Hause bleibt, bis die Kinder erwachsen sind, sondern sich im Arbeitsmarkt einbringt und ihr Wissen weitergibt.
Weil die Grosseltern teils hunderte Kilometer entfernt wohnen, ist eine gegenseitige Unterstützung wie vor 100 Jahren nicht mehr möglich. Doch wer kümmert sich nun um die Kinder, wer um die Grosseltern?
Pflege und Betreuung im Alter sowie familienergänzende Kinderbetreuung sind zentrale Herausforderungen der heutigen Gesellschaft. Während wir bei der Pflege im Alter bereits ein umfassendes und qualitativ hochstehendes Angebot haben, ist das Angebot der Kinderbetreuung für junge Familien erst am Wachsen.
Wir müssen den Begriff „Familie“ weiter fassen. Nach wie vor unterstützen sich die Generationen gegenseitig – nur geschieht das nicht mehr in der Grossfamilie, sondern in unserem sozialen Umfeld. Ich bin gespannt, was in 100 Jahren unsere Nachkommen über die heutigen Familienfotos sagen werden.