Im Juli 2017 hatte ich die Möglichkeit, den Nordwesten der USA zu bereisen. In Seattle schrieb ich den folgenden Text, auf den ich kürzlich wieder stiess, und den ich nach wie vor für aktuell halte. Der Text erschient als Editorial für das Mitteilungsblatt der Gemeinde Schönenbuch im August 2017.
Diese Zeilen schreibe ich gerade in in Seattle – rund 8400 Kilometer von Schönenbuch entfernt. Dieser grosse Abstand zu unserem Heimatland erlaubt auch eine distanzierte Betrachtung der Schweiz – und im Kleinen von Schönenbuch. Was einem Ausländer in den USA auffällt, ist Offenheit und Gastfreundschaft der Amerikaner – das mag erstaunen, nach den strengen Einreisebestimmungen und den Nachrichten, die wir täglich aus den USA vernehmen. In vielen Gesprächen mit Amerikanern betonten alle ihre Herkunft: Deutschland, Niederlande, Griechenland, Schweiz, Italien usw. Als ich sie dann aber fragte, als was sie sich fühlen, sagten alle übereinstimmend: als Amerikanerin, als Amerikaner. Und nicht nur das. Fast ausnahmslos alle waren auch stolz auf ihr Land, das fast einen ganzen Kontinent umfasst; stolz auf ein Land, in dem sie vielleicht gerade in der zweiten Generation leben.
Ich habe mich dann gefragt, wann ich zum letzten Mal einen Schweizer angetroffen habe, der sagte, er sei stolz auf die Schweiz.
Dabei hat die Schweiz mit den USA viel gemeinsam. Wenn auch viel kleiner, so ist auch die Schweiz ein Bundesstaat, bestehend aus teilsouveränen Staaten, den Kantonen. Es gibt eine einheitliche Währung und unsere Verfassung und unser Parlamentssystem sind stark von den USA beeinflusst. Nicht zu schweigen von der kulturellen Beeinflussung der USA auf die ganze westliche Hemisphäre.
Es gibt aber auch deutliche Unterschiede: Während die USA nur eine Sprache kennen, das amerikanische Englisch, haben wir vier Landessprachen. Die Schweiz ist keine Kulturnation, die sich über eine gemeinsame Sprache und Kultur definiert. Vielmehr ist es, in den Worten des Baselbieter Historikers Michael Hermann, ein „mehrschichtiges, feinstoffliches Gewebe, das die Schweiz zusammenhält“. Oder in den Worten Gottfried Kellers (in „Der Grüne Heinrich“): „Nicht die Nationalität gibt uns Ideen, sondern eine unsichtbare, in diesen Bergen schwebende Idee hat sich diese eigentümliche Nationalität zu ihrer Verkörperung geschaffen.“
Die Idee der Schweiz ist es also, dass es sie gibt. Und wenn man sieht, welche Stürme die Schweiz überstanden hat, ist es fast erstaunlich, dass es sie noch gibt.
Umso mehr müssen wir Sorge tragen zu diesem feinstofflichen Gewebe. Michael Hermann sieht in diesem Gewebe bereits fadenscheinige Stellen. Er merkt aber auch an, dass dieses Gewebe nie einfach da war, sondern immer wieder von Menschen neu erschaffen wurde.
Und damit bin ich in Schönenbuch angekommen. Wie viele Menschen in den USA bin auch ich hier ein Einwanderer (auch wenn Nunningen in der Nähe liegt). Und doch fühle ich mich als Schönenbucher und ich bin stolz auf unser Dorf. Denn ich habe allen Grund dazu. Wie noch in kaum einer anderen Gemeinde habe ich hier das Gefühl erfahren, wie an diesem von Michael Hermann erwähnten feinstofflichen Gewebe gewebt wird. Denn „nation-building“ beginnt im Kleinen. Viele Hände sind dazu nötig, viel Einsatz und viel Überzeugung. Und ich bin überzeugt, dass sich der Einsatz lohnt für diese laut Gottfried Keller „eigentümliche Nation“.
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